Fakten zum Artikel
Ort:

Kopenhagen, Dänemark

Wer:

Vertreter von Behörden, Polizisten, Hausbesetzer, Anwohner, Demonstranten

Was:

Sozialräumlicher Konflikt um ein in den 1970er Jahren besetztes Gebiet im Zentrum von Kopenhagen. In den vergangenen 30 Jahren kam es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und „geduldeten“ Bewohnern, meist vor dem Hintergrund unklarer Besitzverhältnisse. Das Areal wird derzeit an die Besetzer von damals verkauft. Durch eine eigens dafür eingerichtete „Volksaktie“ können sich Interessierte aus der ganzen Welt am Kauf beteiligen.

„Wir kaufen unsere Stadt!“ Das Experiment Christiania in Kopenhagen

Sina und Sajjad Montazeri aus Rasht (Iran) freuen sich. Von ihrem dänischen Freund Rasmus haben sie eine Aktie geschenkt bekommen. Diese Aktie wird nicht an den Börsen in New York oder Frankfurt gehandelt. Auch bietet sie den Eigentümern keinen Ausblick auf Akkumulation von Kapital. Im Gegenteil. Als Besitzer der „Volksaktie Christiania“ unterstützen sie ein Experiment, dessen Grundgedanke antikapitalistischer nicht sein könnte:

Ein in den 1970er Jahren von überwiegend jungen Alternativen besetztes, 34 Hektar großes Gebiet in der Mitte von Kopenhagen wird derzeit an die Besetzer von damals verkauft. Der dänische Staat, offizieller Eigentümer des Grundstücks, tritt das Gelände für umgerechnet rund zehn Millionen Euro und einer jährlichen Pacht von 800.000 Euro an die ca. 1.000 Bewohner des alternativen Grünstreifens ab. Eine zeitnahe Finanzierung soll durch einen eigens für den Grundstückskauf gegründeten Fond gewährleistet werden, durch den die Öffentlichkeit sich auf freiwilliger Basis an der Subventionierung beteiligen kann. 11.369.979 Kronen, etwa 1,5 Millionen Euro, konnten durch diese Form des weltweiten Crowdfundings bislang gesammelt werden. Geht die Rechnung auf, endet ein emotional aufgeladener Streit um Eigentum und Selbstbestimmung,  in einer kreativen, überraschend marktwirtschaftlichen Lösungsstrategie.

Angetrieben von den Vorstellungen eines selbstbestimmten und unkonventionellen Lebens, besetzen überwiegend junge Bewohner Kopenhagens 1970 das Gelände einer ehemaligen Kaserne und beanspruchen die leer stehenden Gebäude im Stadtteil Christianshavn für sich. Das Areal ist Eigentum des dänischen Staates, liegt jedoch schon seit Jahrzehnten brach. Am 26. September 1971 wird das Gelände in der links-alternativen Zeitung Hovedbladet halb-offiziell zur „Fristad Christiania" (Freie Stadt Christiania) ausgerufen.

Ein Großteil der dänischen Bevölkerung steht dieser Entwicklung zu jener Zeit skeptisch gegenüber

„Gesetzlose Zustände“, Drogenkonsum sowie gewalttätige Zusammenstöße zwischen Polizei und Besetzern bestimmen die mediale Berichterstattung. Sechs von zehn Dänen befürworten 1971 die Räumung des Geländes.

Doch bereits ein Jahr später, am 31. Mai 1972, beschließen die dänischen Behörden in einer vorläufigen Vereinbarung eine offizielle „Duldung“ des inoffiziellen Staates. Voraussetzung sind mitunter monatliche Abgaben der Bewohner Christianias für Wasser und Strom an den dänischen Staat. Die Vereinbarung gilt als rechtliche Anerkennung der Bewohnung. Christiania konsolidiert sich daraufhin rasch von innen und wird zu einem Anziehungspunkt für Alternative aus der ganzen Welt. Zahlreiche Werkstätten, Kreativbetriebe und Kleinkunstbühnen ziehen immer mehr Touristen an. Größter Exportschlager der freien Stadt: Die sogenannten Christiania-Räder – Lastenfahrräder, die sich in Städten wie Berlin, London oder Amsterdam heute großer Beliebtheit erfreuen. Das Experiment „freie Stadt“ schafft plötzlich Perspektiven, wohl gerade, weil es sich auf die Welt außerhalb der „freien Welt“ bezieht.

Trotz dieser Öffnung und der Einigung auf behördlicher Ebene, bleibt Christiania in der Folge Gegenstand politischer wie gesellschaftlicher Auseinandersetzungen

2004 kündigt die dänische Regierung die Vereinbarung über die Nutzungsrechte, die Christiania weitgehende Eigenständigkeit zugesichert hatte – vordergründig, um dadurch gegen den florierenden Drogenhandel in Christianias Pusher Street vorgehen zu können. Damit verbunden ist auch die Absicht der Stadt Kopenhagen, Christiania zu „normalisieren“ und das Gelände schrittweise in einen offiziellen Stadtteil umzuwandeln. 2005 kommt es in Christiania zu einem gewalttätigen Übergriff konkurrierender Drogen-Gangs, bei dem ein junger Mann stirbt. 2007 stehen Bewohner Christianias sowie Aktivisten von „außerhalb“ bewaffneten Polizeieinheiten gegenüber, als ein marodes Haus in Christiania auf Geheiß der Stadt Kopenhagen abgerissen werden soll. Gegenseitige Schuldzuweisungen, gefolgt von Kommunikationsabbrüchen zwischen den beteiligten Parteien, zwischen Bewohnern und Stadtverwaltung, zwischen Kommunal- und Landespolitik befördern in der Folge Misstrauen und Vorurteile.

Die „freie Stadt“ erfährt trotz oder gerade aufgrund dieser Konflikte zunehmende Unterstützung aus der dänischen Bevölkerung – zu großen Teilen auch aus der politischen Öffentlichkeit. Die Stadt Kopenhagen sieht sich mit dem Umstand überfordert, dass Unterstützer Christianias nun „auf beiden Seiten der Barrikaden“ stehen. Der einstige Wunsch der Christianiter hingegen, sich von den umgebenden kapitalistischen Verhältnissen abzuspalten, tritt mehr und mehr hinter den Wunsch zurück, mit allen Konfliktparteien zu einem Kompromiss zu gelangen. „Denn man muss ja auch sehen, dass wir seit einigen Jahren wirklich unter Druck stehen. Es gibt permanente Unsicherheit über unsere gemeinsame und individuelle Zukunft, es gibt Konfrontationen mit der Polizei, die inneren Konflikte, die Auseinandersetzung mit der Stadt“, so Klaus Danzer, seit 1992 Bewohner Christianias.

Im Mai 2009 spitzt sich die Lage dennoch weiter zu:

Das Oberste Landesgericht beschließt die Räumung Christianias zugunsten der dänischen Regierung und dem Staat als formalem Eigentümer des Geländes. Ein von den Christianitern eingeleitetes Berufungsverfahren scheitert 2011 in zweiter Instanz. Für die Bewohner von Christiania scheint die Lage perspektivlos, als ein überraschendes Angebot des dänischen Staates die Situation verändert.  

Der Staat bietet den Christianitern „ihr“ Christiania zum Kauf an. Am 30. April 2011 stimmen die Bewohner Christianas diesem Angebot zu. Den Vorschlag der Regierung führt Knut Folschak, Anwalt und Vorstand des Fonds „Fristaden Christiania“, gegenüber der Financial Times Deutschland auf pragmatische Gründe zurück: „Die Kosten für die Verwaltung des Geländes waren exorbitant hoch. Ganz zu schweigen von der Instandsetzung der Bausubstanz, die auf den Staat zugekommen wäre, hätte er seine ursprünglichen Pläne umgesetzt. Eine dreistellige Millionensumme. Und um sich dieser Kosten zu entledigen, kam der Staat mit einem Verkaufsangebot. Wir einigten uns schnell auf 85,4 Mio. Kronen."

Die Gründe für die rasche Annahme dieses Angebotes durch die Bewohner Christianias sind vielfältig. Der Paradigmenwechsel vom Traum eines inselartigen „Utopia“ hin zum Bewusstsein über die Notwendigkeit eines realen Miteinanders, das mehr Stabilität und Perspektiven auch für nachwachsende Generationen in Christiania verspricht, scheint ein wichtiger Grund zu sein. Klaus Danzer bringt dies gegenüber Peter Birke und Chris Holmested Carsen in „Besetze deine Stadt! Häuserkampf und Stadtentwicklung in Kopenhagen“ bereits 2007 auf den Punkt:

„Es ist nicht so, dass sich Christiania in jeder Beziehung von dem unterscheidet, was sonst in der Gesellschaft passiert. Wir sind ein Teil der dänischen Gesellschaft mit all ihren Problemen.“   

Der Wunsch nach Beteiligung der dänischen Gesellschaft an Christiania wird 2011 noch konkreter.

Für den Ankauf des Geländes wird eine eigene Stiftung gegründet, in der die Erlöse aus dem Verkauf einer „Christiania-Volksaktie" eingezahlt werden. Mit dem Erwerb einer solchen Aktie erhalten die Käufer keine reale Beteiligung an der Freistadt und auch keine Dividende. Dafür aber das vielleicht gute Gefühl, am Erhalt der freien Stadt als „sozialem Experiment" Anteil zu haben. Bislang sind auf diesem Weg knapp elf Millionen Kronen eingegangen – von „Aktionären" aus aller Welt. Knud Folschak ist vom Erfolg und der nachhaltigen Wirkung des semi-kapitalistischen Konzeptes überzeugt:

„40 Jahre war Christiania ein anarchistisches System. Man zahlte keine Mehrwertsteuer, hielt sich nicht an Bau- oder Umweltgesetze. Diese isolierte Gemeinschaft wurde nun durch ein Experiment ersetzt, das sich im gesetzlichen Rahmen bewegt. Für Christiania sind das ähnlich große Umwälzungen wie die Einführung der Marktwirtschaft in den ehemaligen Ostblockländern. [...] Die ehemaligen Revoluzzer von damals müssen eben bereit sein umzudenken. Sonst werden sie konservativ. Es ist immer einfacher, gegen etwas zu sein, als dafür, weil Zustimmung immer auch verpflichtet."


 

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