Tostedt, Niedersachsen
Vertreter von Behörden, Polizisten, linksorientierte Gruppen, Anwohner, Rechtsextreme, Demonstranten
In der Samtgemeinde Tostedt drohen Konflikte zwischen rechtsextremen und linken Aktivisten zu eskalieren. Engagierte Jugendliche fordern ein beherztes Handeln von Kommune und Polizei. Es folgt ein Strategie-Mix, in der die konsequente Verfolgung von Straftaten wie auch ein präventives Zusammenspiel von Polizei und Zivilgesellschaft auf der Agenda stehen.
Er benachrichtigt die Polizei und holt sich einschlägige Unterstützung aus der Szene. Kurze Zeit später geht es los. Zwischen den Lagern stehen die über die Feiertage schlecht besetzten Sicherheitskräfte. Der damalige Polizeichef Karl-Heinz Langner erinnert sich: "Die Polizisten haben Blut und Wasser geschwitzt"
Zu diesem Zeitpunkt hat der 14.000-Einwohner-Ort Tostedt bereits seit mehr als 15 Jahren mit Zusammenstößen zwischen rechtsextremen und linksorientierten Gruppen zu tun. Die Besonderheit: Beide Lager sind seit den 90er-Jahren im Ort stark vertreten. 1999 gründet sich das Tostedter Forum für Zivilcourage, nachdem eine Frau bei einer solchen Auseinandersetzung von Rechtsextremen schwer verletzt worden ist. Die Polizei gilt damals für Viele als Teil des Problems. Ein Forums-Mitglied erinnert sich: "Zu der Zeit war die Polizei auch ziemlich blind auf dem rechten Auge. Anzeigen hat sie nicht aufgenommen, Verfahren verschleppt."
Das Problem verschärft sich, als ein bekannter, wegen Totschlags vorbestrafter Neonazi in den Ort zieht, neue Strukturen aufbaut und 2005 einen Laden mit Szenekleidung und Musik („Streetwear Tostedt“) eröffnet. Nach Angaben des Forums für Zivilcourage hat der Besitzer über diesen Ort gezielt versucht, Jugendliche anzulocken. Was dieser abstreitet. Wegen des überregional bekannten Geschäfts zieht der Ort auch Antifa-Gruppen aus Lüneburg und Hamburg an. Linke und Rechte prallen in verschiedenen Konstellationen aufeinander, demolieren sich gegenseitig ihre Autos, immer wieder gibt es Zwischenfälle. Farbbeutelanschläge auf den „Streetwear“-Laden und eingeworfene Fenster dort gehören zum alltäglichen Bild in Tostedt.
In den Jahren 2009 und 2010 spitzt sich die Situation zu. Am Vorabend der Konfrontation vor dem Neonazi-Laden an Pfingsten 2010 hat es bereits einen Überfall von Rechtsextremen mit Plattschaufeln auf die Feier eines Antifa-Mitglieds gegeben. Nun droht die Situation gewaltvoll zu eskalieren. Vor dem Laden hat der Besitzer nach Angaben von linker Seite Messer und Totschläger dabei, linke Demonstranten sind nach Auskunft der rechten Seite mit Tränengas und Feuerwerkskörpern bewaffnet.
Schon 2009 haben Mitglieder der evangelischen Jugend einen offenen Brief verfasst und Samtgemeinde und Polizei zum Handeln aufgefordert. Das Forum hat mit zahlreichen Aktivitäten versucht, Atmosphäre und Stimmung im Ort zu ändern. Doch ohne Gemeinde, Polizei und Justiz ist der Situation nicht beizukommen. Rechtsextreme haben im Ort das Gefühl, auf die stille Unterstützung der Bevölkerung zu bauen, linke Jugendliche vor Ort fühlen sich allein im Kampf gegen rechts. Teils gewaltbereite Antifas und Autonome aus nahen Städten zeigen sich präsent vor Ort, knüpfen aber keinerlei Verbindungen zu lokalen Beteiligten. Aus Sicht aller Beteiligten gibt es kaum Anknüpfungspunkte für ein gemeinsames Vorgehen, wie folgende Aussagen in der Gegenüberstellung zeigen:
„Denen sind wir nicht radikal genug.“ Ein Mitglied des Forums für Zivilcourage
„Die Antifa sieht uns eben auch als Feinde an. Die wollen auch diesen Staat nicht. Zusammenarbeit ergibt sich da nicht.“ Ein Vertreter der Gemeindeverwaltung
„Die Zusammenarbeit war eher schwierig. (…) natürlich gab es Probleme, da die Kampagne eher als Nestbeschmutzung angelegt war. Aber es sollte schon deutlich gemacht werden, dass ein Teil des Problems auch die Menschen und Institutionen in Tostedt sind, die das Naziproblem kleinreden.“ Ein linker Aktivist im Antifaschistischen Infoblatt
Zunächst setzt die Samtgemeinde seit 2006 denn auch auf Abschreckung. Auf Straftaten von beiden Seiten reagiert sie in Zusammenarbeit mit der Polizei mit einem umstrittenen Mittel, dem „Aufenthaltsverbot“ – einer strengen Form des Platzverweises, die das niedersächsische Landesrecht zulässt, woanders aber bisher nicht in dieser Konsequenz angewendet worden ist . Ordnungsamtsleiter Dieter Hellberg beschreibt das Prinzip: „Menschen, die in einem bestimmten Bereich wiederholt Straftaten begehen, kann man für einen gewissen Zeitraum den Aufenthalt verbieten.“ Laut Polizeichef Langner geht dies so weit, dass die Betroffenen nur auf bestimmten Wegen zur Arbeit oder Schule gehen dürfen. Das Ganze darf vom Ordnungsamt ohne Einschaltung eines Gerichtes angeordnet werden. Bei Missachtung drohen hohe Zwangsgelder. Diese harsche Maßnahme spricht sich als „Tostedtverbot“ herum und führt laut Samtgemeinde zu einem schnellen Rückgang auch der politisch motivierten Straftaten.
Bis eben zu dem Überfall an Pfingsten 2010, der schließlich glimpflich endet. Es gelingt den anwesenden Polizisten mühsam, die Gegner auseinanderzuhalten. Doch in den folgenden Tagen kommt es wiederholt zu gegenseitigen Aggressionen mit Verletzten, die Eskalationsgefahr ist nicht gebannt. Die Polizei gibt als zentrales Problem an, dass Opfer aus dem linken Spektrum häufig keine Anzeige stellten. Nun verstärkt die Polizei den Druck auf beide Seiten, vermehrt die Kontrollen. Mitunter tauchen Polizisten an den Arbeitsplätzen von Verdächtigen auf und versuchen sich, wie von rechtsextremer Seite erinnert wird, als „harte Hunde“ zu zeigen.
Gleichzeitig haben die Ordnungshüter schon vorher einen Prozess der gesellschaftlichen Öffnung vorangetrieben. Die Polizei hat sich präventiven Strategien gegenüber geöffnet und geht regelmäßig in die Schulen. Polizeichef Langner berichtet: „Das Entscheidende ist die Vernetzung zum Beispiel zur evangelischen Jugend oder dem Forum für Zivilcourage. Das hat eine wichtige Vertrauensbasis geschaffen.“ Noch in den 90er Jahren sei präventives Vorgehen für die Polizei Neuland gewesen, gehandelt wurde eigentlich nur strafverfolgend. Einschätzungen von externen Stellen wurden selten berücksichtigt. Das sei heute völlig anders.
Darüber hinaus wird im Präventionsrat der Samtgemeinde, der 2010 nach dem offenen Brief der evangelischen Jugend eingerichtet worden ist, die Justiz in den Blick genommen. Die Sicherheitskräfte haben das Problem, von Rechtsextremisten oft nicht ernst genommen zu werden. Motto: „Ihr müsst uns ja doch wieder laufen lassen!“ Denn nur eine kleine Zahl der aufgenommenen Delikte hat bis dahin tatsächlich zu einem Verfahren geführt.
Der Präventionsrat kommt zu dem Schluss, dass in der zuständigen Staatsanwaltschaft in Stade bislang der Überblick gefehlt habe. Bis dato habe es dort keinen Bearbeiter gegeben, der umfassenden Einblick gehabt hätte und die Ereignisse in der Zusammenschau hätte bewerten können. Das wurde nun geändert: jetzt gibt es einen speziellen Zuständigen. Und es gilt die Verabredung, dass Fälle konsequent vor Gericht landen – von linker wie rechter Seite. Es folgen mehrere Verfahren, die zum Teil noch laufen.
Mittlerweile – so berichten alle Seiten in Tostedt – ist es ruhig geworden. Eine Eskalation wie 2010 scheint derzeit nicht denkbar. Der Szeneladen ist seit Februar 2013 geschlossen. Warum dies so ist: Ob es der Druck der Straße gewesen ist, auf der sich seit einem Gerichtsurteil für den Szeneladenbesitzer immer mehr empörte Tostedter versammelt haben, ob vor allem die Polizeistrategie gefruchtet hat oder der Besitzer des Ladens wegen seiner Familie schlicht kürzer treten will, dazu gibt es widersprüchliche Begründungen. Laut Polizei hat sich die rechtsextreme Szene mehr ins nahegelegene Buchholz verschoben, Mitglieder des Forums für Zivilcourage und auch der Polizei befürchten aber, dass vorgenommene tiefe Einschnitte in der Jugendarbeit im Ort neuen Nährboden liefern könnten für rechtsextreme Rattenfänger.