Im Großraum Berlin und im Internet.
Linksorientierte Gruppen, Medienvertreter
Wie stehen linke Gruppierungen zu Gewalt an Sachen, an Menschen und zum Gewaltmonopol des Staates? Ausgehend von der Diskussion auf dem Internetportal „indymedia“ um den Anschlag auf die Bahnstrecke Hamburg-Berlin am 10. Oktober 2011 werden einige Argumentationsmuster, die in der Gewaltdiskussion linker Grupperungen eine Rolle spielen, aufgezeigt.
Während Journalisten in den regionalen und überregionalen Medien kaum Verständnis für die Täter äußern, Gewalt gegen Personen und Sachen verurteilen und oft auch schnell die Frage „Droht eine neue RAF?“ stellen, geht es in autonomen Kreisen, in der Antifa und bei sonstigen linken Gruppierungen kontroverser zu. Zum Beispiel auf der Internetplattform „linksunten.indymedia.org“, auf der grundsätzlich jeder posten kann, die aber dennoch ein Forum linker Ideen und Meinungen ist, von gemäßigt bis radikal.
Dies zeigt sich auch im Oktober 2011, als an der Bahnstrecke Berlin-Hamburg ein Brandsatz in einem Kabelschacht mehrere Signalkabel zerstört. In den Tagen nach dem Anschlag können weitere Brandsätze an Trafostationen und in Kabelschächten im Großraum Berlin sichergestellt werden. Aufgrund der Anschläge und der daraufhin eingeleiteten Polizeimaßnahmen kommt es zu erheblichen Beeinträchtigungen im Bahnverkehr. Unmittelbar nach dem ersten technisch gelungenen Anschlag am 10. Oktober 2011 bekennt sich eine bis dahin unbekannte Gruppierung namens „Hekla-Empfangskomitee – Initiative für mehr gesellschaftliche Eruptionen“ auf der Internetplattform „linksunten.indymedia.org“ zu der Tat. Sofort löst das Bekennerschreiben eine intensive Debatte auf „indymedia“ aus, die zwischen den Polen „Gut so! Weiter so!“ und „Auweia, was für eine schwachsinnige Form des ‚Protests‘“ verläuft. Dabei überwiegen auf „indymedia“ die Kommentare, die den Anschlag von „Hekla“ aus unterschiedlichen Gründen verurteilen, gegenüber denjenigen, die die Saboteure in Schutz nehmen oder offen mit ihnen sympathisieren. In der Diskussion tauchen mehrere Argumentationsmuster auf, die der Politikwissenschaftler Matthias Mletzko als typisch für die Gewaltdebatte linker Gruppen seit den 1980er Jahren bezeichnet und die eine genauere Betrachtung lohnen.
Wer Gewalt – egal ob gegen Sachen oder Personen – als politisches Mittel anwendet, versucht in der Regel, die Gewaltanwendung zu begründen und in einen politischen Zusammenhang zu setzen. Diesem Rechtfertigungswunsch kommen auch die „Hekla“-Täter in ihrem Bekennerbrief nach, wenn sie schreiben:
„Sabotagehandlungen an mehreren Kabelschächten mit der Bahn zwingen die Hauptstadt Berlin in den Pausenmodus. Dazu haben wir Brandbeschleuniger und elektronische Zeitgeber verwendet. Deutsche Soldaten morden weltweit. Seit 10 Jahren führt die Bundeswehr Krieg in Afghanistan – ohne Zustimmung der Bevölkerung. Anlass genug, dass heute nichts so richtig funktioniert. Wir sorgten heute Morgen für eine Entschleunigung der Hauptstadt als Global Player des Rüstungsexportes. Denn hier müssen sich grundsätzlich die Bedingungen ändern, um Kriege zu verhindern.“ Hekla-Empfangskomitee
Damit wird dem Sabotageakt gegen die Deutsche Bahn ein antimilitaristischer Sinn gegeben. Zum einen wird die Sachbeschädigung zum Erinnerungszeichen an den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, zum anderen werden deutsche Rüstungsexporte damit angeprangert. Genau diese Sinndeutungen werden in den meisten Kommentaren auf „indymedia“ nicht mitgetragen, sondern radikal in Frage gestellt, wie z.B. von „c_h_r_i_s“:
„Eure Taten retten keinen Menschen in Afghanistan, sparen keine Ressourcen, verringern nicht den Verkauf von Handys, verringern den CO2-Ausstoß um kein Gramm, befreien kein Kind aus Zwangsarbeit und statt zu entschleunigen setzen sie die Menschen unter massiven Stress und verschwenden deren Lebenszeit.“
Den direkten Widerspruch zwischen Antimilitarismus und eigenem Gewalthandeln greift ein anderer Kommentar auf: „Wie kann man da von einer antimilitaristischen Gruppierung sprechen, wenn man selber zu Gewalt greift. Welch eine Bigotterie.“
Viele Kommentare beschäftigen sich vor allem mit der Wirkung des Anschlags in der Öffentlichkeit. „Da könnt ihr einen noch-so-langen Bekennerbrief mit ‚Begründungen‘ für diesen (gefährlichen) Unsinn schreiben, im Auge der Öffentlichkeit landet nur ‚Frustrierte Idioten zünden Bahnhof an‘, bemerkt jemand mit dem Pseudonym „Hesiod“.
Mehrere Kommentatoren machen sich Gedanken über die Auswirkungen des Anschlags in der linken Szene: „Gemäßigte Linke fühlen sich durch die Brandanschläge in ihrer politischen Arbeit und persönlichen Freiheit eingeschränkt, die Regierung wird die Gelegenheit nutzen und die Arbeit der antifaschistischen Gruppen behindern und Gelder streichen“, mutmaßt ein Kommentator und ein anderer urteilt:
„Verständnis oder gar Respekt für solche Aktionen kriegt man nur im äußerst hartgesottenen Teil der linken Sphäre – von Personen also, die man garnicht überzeugen braucht. Aktionen wie diese schaden der gesamten Linken, vorallem dem vernunftbegabten Teil...“
Ein weiteres, immer wiederkehrendes Argument in linken Gewaltdebatten wird ebenfalls von der „Hekla-Gruppe“ in ihrem Bekennerschreiben verwendet:
„Unsere Aktion zielt nicht darauf, Menschen zu gefährden. Das haben wir bestmöglich ausgeschlossen. Die Terrorismuskeule sollten die Politiker_innen, Polizei und einige Medien also besser in der Tasche lassen. Denn terroristisch ist, wer Waffen baut, Geld daran verdient und beabsichtigt, Menschen damit umzubringen oder umbringen zu lassen.“ Hekla-Empfangskomitee
Zunächst wird das eigene Gewalthandeln rhetorisch auf den Tatbestand der Sachbeschädigung begrenzt. Die DB-Saboteure stilisieren sich zu Menschenfreunden und Humanisten, weil sie Personenschäden „bestmöglich“ ausschließen. Den Vorwurf des Terrorismus, der kommen muss, nehmen sie vorweg, indem sie die Rüstungsindustrie, die Armee, den Staat und viele andere als „terroristisch“ bezeichnen. „Deutsche Soldaten morden weltweit“ – gegen diesen Vorwurf wirken einige verbrannte Signalkabel wie eine Lappalie.
Noch deutlicher als im Bekennerschreiben selbst kommt das Argument, jede „Aktion“ sei Notwehr gegen ein übermächtiges, unmenschliches System in einem Kommentar zum „Hekla“-Attentat auf „indymedia“ zum Tragen: „Direct Action mit Außenwirkung. Hört auf rumzuheulen. Wenn ihr alle immernoch denkt, friedliche Demos verändern die Welt macht mal die Augen auf. Wir sind im Krieg, wer Widerstand leistet, ob friedlich oder militant, wird von bewaffneten Klonen niedergemacht. Sie haben Waffen, wir das Feuer“.
Hier wird das biblische Motiv des Kampfes David gegen Goliath heraufbeschworen. Wenn jegliches widerständige Verhalten mit Vernichtung geahndet wird, kämpft der Widerständige ums Überleben, sein Gewalthandeln wird zur Selbstverteidigung gegen die Mächte der Finsternis. Eine solche mit Fug und Recht extremistisch zu nennende Position liest man auf „indymedia“ selten, aber es gibt sie. Die meisten der Kommentare zu „Hekla“ entlarven die Selbststilisierung der Saboteure als Humanisten und werfen ihnen die Gefährdung von Menschenleben vor. So fragt ein Kommentator danach, „wie menschenverachtend muss man sein, um Brandsätze in Tunneln anzubringen und Signalkabel zu zerstören, wo vieles automatisch abläuft – damit unterscheidet ihr euch durch euer gedankenverlorenes Handeln keinesfalls von Waffenexporteuren!!!“.
Eine Vorgehensweise, die immer angewendet wird, wenn Gewalt als politisches Instrument legitimiert werden soll, ist die Entmenschlichung bestimmter Personengruppen durch Sprache und das Verniedlichen von Gewalthandeln. Im Handlungsfeld linksextremer Konfrontationsgewalt gilt dies besonders für die beiden Hauptgegnergruppen, Neonazis und Polizisten. Diese werden z.B. als „Nazischweine“ oder „Bullenschweine“ diffamiert. Wenn auf Diskussionsforen im Internet dazu aufgefordert wird, diesen oder jenen „Nazi“ zu „besuchen“, bedeutet das im Klartext einen gewalttätigen Überfall. Autobrandstiftungen werden gerne „PKW-Flambierungen“ genannt und für die Einbrüche in Versuchslabors und den Diebstahl von Versuchstieren hat sich der edel klingende Begriff „Tierbefreiungen“ auf „indymedia“ durchgesetzt. Auch in den Kommentaren zur „Hekla“-Gruppe finden sich zynische und verletzende Wortschöpfungen. „Bist du Bulle oder CDU Troll?“, fragt ein Kommentator einen anderen, der ihm zu wenig Verständnis für die „Hekla-Gruppe“ aufbringen will. Mehrere Kommentatoren verwenden den Begriff „Schweinesytem“, es wird gegen „Bullen“ gehetzt und gegen „knechte des systems“ ins Feld gezogen. allerdings nicht von der überwiegenden Mehrheit der Kommentatoren.
Fazit:
Die Debatte über das Attentat und das Bekennerschreiben der „Hekla-Gruppe“ auf der Internetplattform „indymedia“ zeigt, dass die Debatte über den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung und Propagierung politischer Themen in linken Szenen leidenschaftlich und kontrovers geführt wird. Zumindest auf dem offenen Forum „indymedia“ zeigt sich dabei, dass nicht wenige Kommentatoren Gewaltanwendung sowohl gegen Sachen als auch gegen Menschen als Politikinstrument grundsätzlich ablehnen. Oft verläuft die Diskussion entlang der Linie „Werden Menschen gefährdet?“. Die meisten Kommentatoren stellen den öffentlichen Fern- und Nahverkehr als geeignetes Ziel in Frage. Nur wenige Kommentatoren erklären ihre uneingeschränkte Solidarität mit der „Hekla-Gruppe“ und befürworten noch härtere, professioneller durchgeführte Aktionen. Sowohl im Bekennerschreiben der „Hekla-Gruppe“ als auch bei denjenigen Kommentatoren, die versuchen, die Sabotage gegen die Deutsche Bahn zu rechtfertigen, lassen sich die genannten Argumentationslinien finden, die immer wieder die in linken Szenen geführten Gewaltdebatten bestimmen.