Berlin
Polizisten, Anwohner, Vertreter von Behörden, Politiker, Demonstranten, Engagierte in Bürgerinitiativen
Das Myfest wird von Anwohnern gegründet, um gegen teils sinnlose Krawalle im Kreuzberger Bezirk SO36 am 1. Mai jeden Jahres ein Zeichen zu setzen. Dies erfordert ein hohes Maß an Organisation und Absprache mit der Polizei und den Behörden. Die Dialoge finden jedoch nicht konfliktfrei statt.
Anfang des Jahres 2007 tritt die Arbeitsgruppe im Bezirksamt Berlin Friedrichshain- Kreuzberg zusammen, um das dritte Myfest zu planen. Doch sie werden unterbrochen. Die Tür des Beratungsraumes geht auf und eine Gruppe von Leuten kommt aufgebracht herein. Es handelt sich um die Bühnenbetreiber, von Anfang an fester Bestandteil des Straßenfests. Sie haben das Gefühl, die Anwesenden und insbesondere der Stab des Bezirksamtes Friedrichhain-Kreuzberg, würden ihnen die Gestaltung und Organisation des Festes aus der Hand reißen und über ihre Köpfe hinweg entscheiden wollen. Dabei hatte sich das Straßenfest gerade als ein mögliches Konzept erwiesen, die traditionellen Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten zu besänftigen.
Die Idee, im Kreuzberger Bezirk SO36 ein Straßenfest zum 1. Mai zu veranstalten, hat Silke Fischer.
Der Ursprung war eigentlich, dass ich zu fünf oder sechs Freunden gesagt habe: Entweder müssen wir hier wegziehen, oder wir verändern die Situation. Der 1. Mai hatte einfach Auswirkungen auf den Umgang im Alltag. Es gab die Regel des Stärkeren und des Faustrechtes, und Gruppen, die hierarchisch organisiert waren, so wie kleine Parallelgesellschaften. Da stellte sich die Frage, entweder mache ich was oder ich gehe. Silke Fischer
Nach den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei am 1. Mai 1987 in Kreuzberg gilt von nun an jeder 1. Mai eines Jahres als unberechenbar. Die Beteiligung an den Demonstrationen, wie auch das tatsächliche Gewaltpotenzial bleiben unvorhersehbar. Der Feiertag begünstigt eine Dynamik, die sich aus Gruppen politischer Linker, „Randalierern“, Schaulustigen und „Krawalltouristen“ in Verbindung mit einem überhöhten Alkoholkonsum zusammensetzt. Diese Menschenmenge kann weder von der Polizei noch von den linken Veranstaltern oder einzelnen autonomen Gruppierungen kontrolliert werden. Die Polizei reagiert ihrerseits mit einem hohen Aufgebot und starker Präsenz. Dies lässt die Stimmung noch aggressiver werden. Kreuzberg und insbesondere der Bezirk SO 36 befinden sich über Jahre immer wieder im Ausnahmezustand.
An diesem Punkt beschließt die Anwohnerin Silke Fischer zu handeln. Aber sie will dabei nicht alleine sein. Zuerst fragt sie in ihrem Bekanntenkreis nach, dann versucht sie weitere Anwohner für ihr Anliegen zu gewinnen.
Ich habe angefangen, hoch zu gehen und an jeder Tür zu klingeln. Ich habe gesagt: „Ich wohne da und da und wollte mal mit Ihnen über den 1. Mai reden. Finden Sie das toll? Ich kann Ihnen gleich sagen: Ich habe nur noch Angst.“ So bin ich mit unglaublich vielen Leuten ins Gespräch gekommen. Ich wollte einfach mal hören, ob ich die Einzige bin. Silke Fischer
Sie klappert die ganze Nachbarschaft ab, baut ein Netzwerk auf.
Ich weiß nicht mehr, in wie vielen Wohnungen ich war, wie viel Tee, wie viel Kaffee, wie viel Wein ich getrunken habe. Aber dann war klar: Hier sind so viele Leute, die Angst haben, die verzweifelt sind. Und dann habe ich mir gedacht, es ist richtig, den Gedanken weiterzudenken. Silke Fischer
Silke Fischer, die zu der Zeit bereits beim Quartiersmanagement arbeitet, erhält über einen Abgeordneten einen Termin beim Berliner Innensenator Erhardt Körting. Weitere Absprachen mit der Berliner Polizei unter der Leitung des Polizeipräsidenten Dieter Glietsch und des Ordnungsamtes folgen. Die Unruhen zum 1. Mai sind ein nicht unerhebliches Thema für beide Verantwortlichen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits einige ihrer Amtsvorgänger daran gescheitert, die Krawalle des 1. Mai zu kontrollieren. Körting sieht das Potenzial des geplanten Straßenfestes und geht auf den Vorschlag ein. Das Myfest soll künftig über Mittel des Bezirksamtes finanziert werden. Fischer, die selbst aus der Hausbesetzerszene stammt, staunt noch heute über das entgegengebrachte Vertrauen.
So etwas zur damaligen Zeit zu machen, war unglaublich mutig, auch vom Polizeipräsidenten Glietsch. Körting hat Vertrauen geschenkt. Wenn er nicht einen Funken Vertrauen gehabt hätte, dass dort die Chance liegt, Dinge zu verändern und Gewaltpotenziale zu verändern, dann hätte er es doch gar nicht gemacht. Wenn sie den Mut nicht gehabt hätten, dann wäre es erledigt gewesen. Silke Fischer
Mit Antritt des Polizeipräsidenten Dieter Glietsch steht die Berliner Polizei vor einer Strukturreform, die ihre Kreise in der Bundesrepublik ziehen wird. Der Fokus der Arbeit wird auf Prävention und Deeskalation gelegt. Am 1. Mai 2003 findet zum einen das erste Myfest statt, zum anderen verändert sich das Auftreten der Einsatzkräfte fundamental. Dialoge im Vorfeld, weniger aktive Polizeipräsenz an den Brennpunkten sowie der Einsatz von Anti-Konfliktteams prägen das neue Vorgehen der Polizei. Die Einheiten werden in Hinterhöfen und außerhalb des SO 36 positioniert, um nicht durch ihren Anblick zu provozieren, jedoch dabei jederzeit handlungsbereit zu sein.
Heute ist das alles selbstverständlich. Nur damals gab es unglaublich viel Misstrauen und Feindschaft von unserer Seite gegenüber der Polizei und andersherum. Da gab es kaum ein Zusammenkommen. Das ist völlig klar, denn die Erfahrung, die man gemacht hat, hat man einfach und das gilt auch für alle Seiten. Es ist ja nicht so, dass wir die Guten sind und die Polizisten die Bösen. So platt ist die Welt dann auch nicht, auch nicht in Berlin. Silke Fischer
Mit der Polizei ist vereinbart, dass sie das Areal des Myfests nicht betreten. In den ersten beiden Jahren sind die Geschäfte im SO36 noch verbarrikadiert. Um 19.30 Uhr brennen die ersten Autos am Heinrichplatz. Aber Fischer betont „Wir haben uns nicht zurückgezogen“. So spät wie möglich wird dann vor Ort entschieden, die Veranstaltung zu beenden. Ein wichtiger Teil des Straßenfests sind auch Musikbühnen, die die Leute unterhalten und binden sollen. Eine solche Bühne wird von dem Hardcore-Szeneladen Core Tex in der Oranienstraße organisiert. Udo hat sie von Anfang an betreut.
Die Proteste am 1. Mai haben für mich immer eine Rechtfertigung gehabt. Dass die Leute aber unseren eigenen, damals sehr armen Kiez kaputt machen, ist natürlich widersinnig. Von daher war ich bei der Idee sofort dabei, unsere eigenen Plätze zu besetzen, in der Hoffnung, dass die Krawalle abebben oder dass sie sich in reiche Bezirke oder Einkaufsstraßen wie die Friedrichsstraße verlagern. Dafür wurden wir natürlich hart attackiert. Gleich im ersten Jahr fing es an, dass gesagt wurde, das ist doch eigentlich ein „Befriedungsfest“ oder ein „Bullenfest“. Mit diesen Anfeindungen mussten wir dann natürlich leben. Aber wir haben für uns einfach irgendwann entschieden, dass wir das tragen. Udo Core Tex
Die Zusammenarbeit zwischen den Anwohnern, den Behörden und der Polizei verläuft nicht ohne Konflikte. Die Akteure können unterschiedlicher nicht sein. Und dort wo Beteiligung nicht ernst genommen wird, gerät der Dialog ins Stocken. So wie Anfang 2007, als die Myfest-Versammlung im Bezirksamt Berlin Friedrichshain-Kreuzberg ohne die Bühnenbetreiber stattfindet. Es herrschen Zweifel an den Absichten des neuen Bezirksbürgermeisters. Dies ist nicht unerheblich, schließlich ist das Bezirksamt als Geldgeber der offizielle Veranstalter des Straßenfestes. Udo von der Core Tex Bühne beschreibt die Situation 2007 folgendermaßen:
Mit dem Machtwechsel wurde dann auch versucht, uns rauszudrängen, das heißt, es haben „geheime“ Sitzungen im Rathaus stattgefunden, wo dann über die Neustrukturierung des Myfests gesprochen werden sollte. Wir haben aber davon Wind bekommen und sind dann auch ins Rathaus gegangen. „Ja, wir sind das Myfest. Wir haben das Myfest auf die Beine gestellt, warum redet keiner mit uns?“ Udo Core Tex
Jörg Flähmig, der Referent des Bezirksbürgermeisters, bei dem seit eben dieser Zeit die Fäden für das Myfest auf dem Schreibtisch zusammenlaufen, merkt schnell, dass die vorgefundenen Strukturen beibehalten werden müssen. Schließlich will er auf die Unterstützung der Anwohner zählen.
Bei den Akteuren vor Ort entstand das Gefühl, es soll alles anders werden, wir würden das alles über die Verwaltung machen. Hier auf unserer Seite gab es dagegen das Bestreben, dass man die Erfolge, die es bis dahin ja unstrittig gab, einfach nur zusammen fortsetzen möchte. So gab es da einen kleinen Bruch mit den Akteuren und ich musste wirklich anfangen zu lernen, wer welche Rolle spielt, wer welche Position vertritt, nach außen und auch informell in der Organisation des Myfestes. Dieser Konflikt schien am Anfang eigentlich kaum zu bewältigen zu sein. Jörg Flähmig
Der Polizeidirektor Jörg Wuttig, der seit acht Jahren als Ansprechpartner der Polizei Friedrichshain-Kreuzberg für die freien Organisatoren des Myfests fungiert, hat die schwierige Entwicklung bis hin zur Annäherung selbst miterlebt.
Es hat gedauert, um Vorurteile abzubauen. Wir haben da auch sehr viel Persönliches investiert, um dieses Vertrauen zu schaffen. Früher hat man immer die Helme gesehen, heutzutage sind wir in Kiezversammlungen und wir haben Dinge erlebt, die ein normaler Polizist nicht erlebt. Letztendlich haben wir dem Ganzen ein Gesicht gegeben, eine Verantwortlichkeit und Vertrauen geschaffen. Zwar mögen erfahrungsgemäß nicht alle die Polizei, aber die Aktzeptanz ist da. Sie fußt auf vertrauensbildenden Maßnahmen, auf dem Aufeinander zugehen in all den Jahren und auch dem Eingeständnis, dass das eine oder andere möglicherweise nicht so geklappt hat. Jörg Wuttig
Der Stabschef der Berliner Polizei, Jürgen Klug, ist seit neun Jahren der Einsatzleiter des 1. Mai. Er sieht die Lösung in einem Zusammenspiel der Akteure.
Es wird ganz deutlich, die Polizei alleine schafft das eben nicht. Wenn ich so ein Phänomen habe, wie den 1. Mai in Berlin, dann ist das eine gesellschaftliche Aufgabe, sich darum zu kümmern. Da muss das Bezirksamt, da muss die Politik mitspielen und das Konzept mittragen und sie muss ihre eigenen Möglichkeiten suchen, um mitzuwirken. Wenn dann auch noch aus der Bewegung selbst die Bereitschaft wächst, mitzumachen und so eine Veranstaltung zu sichern, dann glaube ich, ist es genau das Erfolgskonzept. Jürgen Klug
Auf die Frage, warum das Konzept des Myfests in einer Situation der Angst aufgegangen ist, sagt Silke Fischer:
Der 1. Mai ist ein Ritual. Das Ritual nährt sich dadurch, dass es stattfindet und wird dadurch immer größer. Und ein Ritual verändert man nur durch ein anderes Ritual. Nur das wiederholbare schafft Vertrauen, so einfach ist die Welt. Und es braucht Gesichter, die dann den Mut haben, sich zum Arschloch zu machen. (lacht). Ja, man schafft sich auch viele Feinde und ohne Rückgrat geht es eben nicht. Silke Fischer
2013 sind es nach Schätzungen der Polizei etwa 40 000 Besucher, andere Stimmen sprechen sogar von 100.000. Vom ursprünglichen Kiezfest ist dabei nicht mehr viel übrig geblieben. Einige Bühnen, wie die Rockbühne und die SO 36-Bühne, haben sich vom Myfest zurückgezogen, weil sie die Entwicklung nicht mehr mittragen wollen. Für die Organisatoren ist es zur Routine geworden. Dazu gehört auch, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei und den Behörden besser funktioniert.
Nachdem man vorher jedwede Regel, jedwede Intervention und staatliche Obrigkeit ablehnte, ist es heute ganz anders. Wenn ich heute mit vielen zusammensitze und das Myfest plane, dann wünschten sich am liebsten diejenigen, die noch vor fünf Jahren „Geht weg“ gesagt haben: „Na, könnt ihr nicht vorne die Einlasskontrollen machen, damit nur die ohne Flaschen zu uns reinkommen?“ Jörg Wuttig
2012 feiert das Myfest sein 10-jähriges Jubiläum. Die Krawalle und Unruhen in Kreuzberg sind mit Ausnahme des Jahres 2009 verebbt. Dies ist ein großer Erfolg für die Organisatoren und für die Polizei. Die Idee von Silke Fischer ist aufgegangen. Seit 2007 hat sie sich aus der Organisation des Myfestes zurückgezogen.
Heute gibt es neue Konflikte. Das Fest der Anwohner ist für manche Nachbarn zu einer unangenehmen Lärmbelästigung geworden. Im Gästebuch der Webseite myfest36.de beschweren sich Einige über Erbrochenes im Hausflur und grölende und betrunkene Touristen. Im Vergleich zu früheren Zuständen mit Ausgangssperren und brennenden Barrikaden scheint dies nicht der Rede wert. Doch Soner Ipekçioğlu, der seit 2006 beim Myfest dabei ist, zeigt Verständnis:
Unsere Aufgabe ist es, die Menschen an die Bühnen zu binden. So gibt es, für den Fall, dass Krawalle kommen sollten, keine Wege für Randalierer. Wir stehen aber auch immer im Konflikt mit den Mietern und Anwohnern, die natürlich auch ihre Nachtruhe haben wollen. Der 1. Mai findet leider sehr oft an einem Wochentag statt, wo sie am nächsten Tag arbeiten müssen und die Kinder zur Schule gehen müssen. Es gibt also immer einen Konflikt. Soner Ipekçioğlu
Die Organisatoren des Myfestes sind noch immer ein buntgemischter Haufen von Menschen, die es über die Jahre hinweg geschafft haben, in einer losen Form organisiert zu bleiben. Beteiligte erzählen von Meinungsverschiedenheiten und Wortgefechten bei den Sitzungen, aber zum Schluss, so Udo von der Core Tex Bühne, „einigen wir uns auch auf einen Konsens, den wir alle zusammen finden und wo wir dahinter stehen können. Das wird dann auch als Thematik für das gesamte Myfest gesehen.“ 2013 wird erstmals eine politische Botschaft auf allen Bühnen verlesen, um auf die sozialen Missstände aufmerksam zu machen und den sozial-kritischen Charakter des Myfests wieder zu stärken. Dafür wird auch Silke Fischer hinzugeholt.